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Einleitung

Seit den sechziger Jahren erfährt die klassische Mechanik eine unerwartete Renaissance. Die exponentiell anwachsende Rechenleistung der verfügbaren Computer ermöglicht es seitdem, in zunehmendem Maße auch solche Systeme en detail zu untersuchen, die sich vorher aufgrund ihrer analytisch nicht erfaßbaren komplizierten Dynamik einer eingehenden Untersuchung entzogen. Insbesondere die nichtintegrablen Systeme -- Systeme, für die es keine vollständige Lösung in geschlossener Form gibt -- können nun intensiver studiert werden und geben ihre oft unübersehbar komplexe, chaotische Dynamik dem Betrachter preis. Nicht von ungefähr gehen die Entwicklung der Computertechnologie und das Aufkommen der ,,Chaostheorie`` Hand in Hand.

Im allgemeinen wird ein physikalisches dynamisches System durch einen Satz von miteinander gekoppelten Differentialgleichungen beschrieben. Das Mittel der Wahl zur computergestützten Untersuchung eines solchen Systems ist in der Regel die numerische Integration, mit deren Hilfe man anstelle einer analytischen Lösung des Problems Trajektorien im Phasenraum erhält, die dann weitergehend zu analysieren sind. Beispielsweise können Poincaré-Schnitte angefertigt oder Ljapunov-Exponenten berechnet werden und vieles andere mehr. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von ,,experimenteller Mathematik``. Wir wollen dieser Vorgehensweise keinesfalls ihre Berechtigung absprechen, im Gegenteil werden wir selbst ausgiebig von ihr Gebrauch machen. Die vorliegende Arbeit zeigt aber unter anderem auch, daß der Computer in der Theorie dynamischer Systeme nicht nur für numerische Zwecke nutzbringend eingesetzt werden, sondern auch entscheidend zur theoretischen Analyse beitragen kann. Diese wesentliche, bislang eher im Hintergrund stehende Anwendungsmöglichkeit wird besonders plastisch am Beispiel der Normalformentheorie.

Wie viele Ideen in der Theorie dynamischer Systeme geht auch der Grundgedanke der Normalformentheorie auf Poincaré zurück. Der Ansatz dieser Theorie besteht in dem Versuch, das zu untersuchende dynamische System durch eine Folge systematischer Umformungen in eine möglichst einfache -- normale -- Form zu transformieren. Was kann ,,Einfachheit`` im Rahmen der oben angesprochenen Differentialgleichungssysteme bedeuten? Poincaré zielte zunächst auf die vollständige Linearisierung des Vektorfeldes der Differentialgleichung. Unter gewissen Bedingungen (Nichtresonanz) gelingt dieses Vorhaben, und die Lösung des Problems wird trivial. Dies war einer der Kernpunkte von Poincarés Dissertation. Im allgemeinen, resonanten Fall gelingt aber die Linearisierung nicht, und man muß sich mit dem weniger ehrgeizigen Ziel bescheiden, das Vektorfeld so weit wie möglich zu vereinfachen. Als eine seiner méthodes nouvelles beschreibt Poincaré ein entsprechendes Verfahren in [Po92].

Bisher haben wir von allgemeinen Differentialgleichungssystemen gesprochen. Im Rahmen der Normalformentheorie Hamiltonscher dynamischer Systeme vereinfacht man dagegen nicht das Vektorfeld der kanonischen Differentialgleichungen, sondern wendet sich der Hamilton-Funktion selbst zu. Nach den Vorarbeiten von Poincaré entwarf Birkhoff [Bi66] als erster die Grundzüge dieser Variante der Normalformentheorie. Es gab dann eine Vielzahl weiterer Veröffentlichungen, von denen wir hier nur die Schlüsselarbeiten von Gustavson [Gu66], Dragt und Finn [DrFi79] und Stegemerten [St91] nennen.

Die Analyse der Hamilton-Funktion anstelle des Vektorfeldes hat den entscheidenden Vorteil, daß man nach erfolgter Normalisierung wichtige physikalische Eigenschaften des Systems -- in Gestalt eines zweiten (formalen) Integrals der Bewegung -- direkt aus der Hamilton-Funktion ablesen kann. Insbesondere bei Systemen mit nur zwei Freiheitsgraden der Bewegung kann die Hamiltonsche Normalformentheorie zur vollständigen Integration, also zur Lösung des Problems führen. Und selbst wenn das System nichtintegrabel oder höherdimensional ist, gelingt es mit Hilfe des formalen Integrals doch, die Systemeigenschaften genauer zu charakterisieren. Beispielsweise interessiert man sich in konkreten Situationen oft für das mittel- und langfristige Verhalten eines nichtintegrablen Systems. Dieses Verhalten läßt sich unter gewissen Bedingungen trotz der sehr komplexen Dynamik erstaunlich genau mit Hilfe des zweiten Integrals vorhersagen, auch wenn es lediglich näherungsweise konstant, also ein ,,Quasiintegral`` ist. Die Normalformentheorie ordnet sich damit harmonisch in eines der zentralen Themengebiete der klassischen Mechanik ein: die Suche nach weiteren Integralen der Bewegung.

Dem Computer fällt im Rahmen der skizzierten Theorie die Aufgabe zu, die vereinfachende Transformation der Hamilton-Funktion durchzuführen. Wir können zwar die bei dieser Normalisierung zu berücksichtigenden Regeln analytisch formulieren, aber die praktische Durchführung erfordert so viele -- jeweils für sich triviale -- Rechenschritte, daß eine Berechnung ,,von Hand`` aussichtslos erscheint, wenn man hinreichend genaue Ergebnisse erzielen möchte. Dies gilt um so mehr, als wir in dieser Arbeit einen verallgemeinerten Normalformenkalkül diskutieren, der die Theorie Birkhoffs und Gustavsons zwar beträchtlich erweitert, aber auch den Umfang der erforderlichen Rechnungen potenziert.

Das vorrangige Ziel der vorliegenden Arbeit besteht in der umfassenden Analyse einer Klasse von Modellsystemen, der sogenannten magnetischen Flaschen, die mit dem klassischen Gustavsonschen Normalformenkalkül nicht behandelt werden können. Um in die Problematik einzuführen, stellen wir in Kapitel 1 zunächst die Poincarésche Theorie vor und zeigen, warum sie im Rahmen der Hamilton-Mechanik inadäquat ist. Folgerichtig gehen wir dann zur Theorie Gustavsons über, deren Anwendungsbereich zwar auf Hamilton-Funktionen eines gewissen Typs beschränkt ist, anhand derer aber die Ideen und Verfahrensweisen der Normalformentheorie für Hamilton-Funktionen vergleichsweise einfach dargestellt werden können. Wir besprechen als nächstes die auf Dragt, Finn und Stegemerten zurückgehende Theorie, die auf alle in Gestalt einer Potenzreihe vorliegenden Hamilton-Funktionen angewendet werden kann. Insbesondere zeigen wir, wie sich im Rahmen dieser Theorie für alle Hamilton-Systeme ein zweites Integral der Bewegung bestimmen läßt.

In Kapitel 2 leiten wir die Hamilton-Funktionen der drei als Modellsysteme dienenden Magnetflaschen her, auf die wir im folgenden den Normalformenkalkül anwenden wollen. Unter einer magnetischen Flasche verstehen wir ein Magnetfeld, in dem die gebundene Bewegung eines geladenen Teilchens möglich ist. Wir richten dabei unser Hauptaugenmerk auf die von Brown und Gabrielse eingeführte Magnetflasche [BrGa86]. Daneben diskutieren wir auch die auf Dragt und Finn zurückgehende ,,Mirror Machine`` und das Størmer-Problem [St55]. Am Beispiel des letztgenannten Systems zeigen wir, daß die direkte Anwendung der Normalformentheorie in der hier diskutierten Form unmöglich ist, wenn die Hamilton-Funktion nicht in Gestalt einer Potenzreihe vorliegt. Wir zeigen aber auch, wie man dieses Problem umgehen kann.

Das Kapitel 3 ist der konventionellen Analyse der Dynamik in der Brown-Gabrielse-Flasche gewidmet. Wir weisen unter anderem nach, daß die Dynamik in diesem System tatsächlich gebunden ist und führen mit Hilfe von Poincaré-Schnitten den numerischen Nachweis der Nichtintegrabilität des Systems.

Kapitel 4 bildet den Kern der vorliegenden Arbeit. Die Bedeutung dieses Kapitels liegt vor allem darin, daß hier zum ersten Mal die Normalformentheorie in der von Stegemerten vorgeschlagenen Formulierung angewandt wird. Wir beschreiben detailliert, wie die Hamilton-Funktionen magnetischer Flaschen in Normalform zu überführen sind und bestimmen mit Hilfe der in diesem Kapitel entwickelten Techniken ein Quasiintegral für das Brown-Gabrielse-System. Die Güte, das heißt die Konstanz, dieses Quasiintegrals wird im Rahmen einer lokalen Analyse diskutiert. In einem weiteren Abschnitt über die globale Analyse des Quasiintegrals schlagen wir drei neue Verfahren vor, die das Quasiintegral verwenden, um das Phasenportrait des Systems zu untersuchen und zu klassifizieren. Im Zuge dieser Darstellung zeigen wir die Schwächen eines entsprechenden, von Kaluza und Robnik vorgeschlagenen Verfahrens auf.

Wir beenden die Arbeit in Kapitel 5 mit einer kursorischen Untersuchung typischer Quasiintegrale von Magnetflaschen, um einen Eindruck von dem Zusammenhang zwischen der Gestalt der Hamilton-Funktion und den Divergenzeigenschaften des Quasiintegrals zu erhalten.

In Anhang A geben wir schließlich, aufbauend auf Vorarbeiten von Galin [Ar89, Anhang 6], die formalen Integrale der Bewegung für sämtliche (bis auf eine) Normalformen von Hamilton-Funktionen an.


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Martin_Engel 2000-05-25