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Die Dragt-Finn-Stegemerten-Normalform

Der in Abschnitt 1.2.2 beschriebene Normalformenkalkül ist nur auf Hamilton-Funktionen anwendbar, deren quadratischer Anteil die Gestalt (1.61) hat. Den Grund für diese Einschränkung machen wir uns an einem einfachen Beispiel klar. Wir betrachten ein Teilchen mit einem Freiheitsgrad der Bewegung ($n=1$), das sich in niedrigster Ordnung frei bewegt:

\begin{displaymath}
\quad H_2(q,p) = \frac{1}{2} p^2 \quad.
\end{displaymath} (1.60)

Der zu $H_2(q,p)$ adjungierte Lie-Operator ergibt sich als
\begin{displaymath}
\quad
{\cal A}_m(\cdot) = \left\{ \cdot,\frac{1}{2}p^2 \right\}
= p\frac{\partial}{\partial q} (\cdot) \quad.
\end{displaymath} (1.61)

Es zeigt sich, daß schon für $m=3$ die Zerlegung (1.68) nicht möglich ist. Eine Basis von $\L _3$ ist beispielsweise $\left\{ p^3,p^2q,pq^2,q^3 \right\}$. Die Anwendung von ${\cal A}_3$ auf die Elemente dieser Basis ergibt
\begin{displaymath}
\quad
\begin{array}{lcl}
{\cal A}_3 (p^3) & = & 0 \\ [0.2...
...2q \\ [0.2cm]
{\cal A}_3 (q^3) & = & 3pq^2 \quad,
\end{array}\end{displaymath} (1.62)

so daß wir für den Kern und das Bild von ${\cal A}_3$
\begin{subequations}
\begin{eqnarray}
\mbox{Ker}\left({\cal A}_3\right) & = & ...
...= & \mbox{span} \left\{ p^3,p^2q,pq^2 \right\}
\end{eqnarray}\end{subequations}
erhalten. Offensichtlich ist
\begin{displaymath}
\quad \L _3 \neq \mbox{Ker}\left({\cal A}_3\right) \oplus \mbox{Im}\left({\cal A}_3\right) \quad.
\end{displaymath} (1.62)

Für beliebige quadratische Terme der Hamilton-Funktion ist also die Gültigkeit der Zerlegung (1.68) keineswegs sichergestellt. Aber nur wegen dieser Zerlegung ist die Definition der Gustavson-Normalform sinnvoll, denn erst Gl. (1.68) ermöglicht die Lösung der homologischen Gleichung (1.66a) und damit die Durchführung einer normalisierenden Transformation.

Vor diesem Hintergrund benötigen wir also eine von ${\cal A}_m$ erzeugte Zerlegung von $\L _m$, die für alle ${\cal A}_m$, das heißt für alle möglichen quadratischen Anteile $H_2$ der Hamilton-Funktion gültig ist. Die für die Lösung dieser Frage entscheidende Idee wird in [DrFi79] beschrieben: Wir betrachten einen endlich-dimensionalen unitären Vektorraum $V$ mit dem Skalarprodukt $(\cdot\vert\cdot)$. Zu jedem linearen Operator $O$ auf $V$ ist über $(x\vert Oy)=(O^*x\vert y) \; \forall \; x,y\in V$ der entsprechende adjungierte Operator $O^*$ definiert. Die aus der linearen Algebra bekannte Fredholmsche Alternative [MeHa92] besagt, daß dann

\begin{displaymath}
V = \mbox{Ker}\left(O^*\right) \oplus \mbox{Im}\left(O\right)
\end{displaymath} (1.63)

gilt. Das bedeutet für die uns interessierenden Polynomräume:
\begin{displaymath}
\quad \L _m = \mbox{Ker}\left({\cal A}_m^*\right) \oplus \mbox{Im}\left({\cal A}_m\right) \quad,
\end{displaymath} (1.64)

ungeachtet der speziellen Gestalt von $H_2$ bzw. ${\cal A}_m$.

Mit dieser Zerlegung von $\L _m$ können wir nun ein erweitertes Normalformenkonzept einführen.

Definition 1.4   Eine in Form einer formalen Potenzreihe (1.41) gegebene Hamilton-Funktion $H({\mbox{\protect\boldmath$z$}})$ ist in Dragt-Finn-Stegemerten-Normalform bis zum Grad $m$, wenn gilt:
\begin{subequations}
\begin{equation}
\quad
{\cal A}_l^*\left(H_l\right) = 0 ...
... \quad \mbox{f\uml {u}r} \quad l\geq 3 \quad.
\end{equation} \end{subequations}

Wir werden abkürzend auch von der DFS-Normalform sprechen.

Ein wichtiger Unterschied zwischen dieser Definition und derjenigen der Gustavson-Normalform, Gl. (1.62), besteht darin, daß Gl. (1.89) nicht für $l=2$ erfüllt sein muß und es im allgemeinen auch nicht ist. $H_2$ auf Normalform gemäß Gl. (1.89) zu transformieren, z. B. mittels einer Lie-Transformation, wäre sinnlos, denn mit einer Änderung von $H_2$ änderte sich auch der Operator ${\cal A}_l$! Dagegen ist die entsprechende Gleichung im Gustavsonschen Fall für $l=2$ immer erfüllt. Dies ist im Rahmen der Gustavsonschen Theorie auch notwendig, damit $H_2$ ein Integral der Bewegung ist. Dieser Unterschied zwischen den beiden diskutierten Normalformbegriffen wird im folgenden Abschnitt 1.2.4 eine wichtige Rolle spielen. Dort werden wir zeigen, wie man auch für eine Hamilton-Funktion in DFS-Normalform ein Integral der Bewegung angeben kann, in Analogie zum Integral $H_2$ der Gustavson-Theorie.

Die Definition 1.4 ist in dieser Allgemeinheit noch nicht praktisch anwendbar. Es bleibt noch, ein geeignetes Skalarprodukt auf den Räumen $\L _m$ zu spezifizieren, mit dessen Hilfe ${\cal A}_m$ definiert und explizit angegeben werden kann. Diese Wahl kann nach Gesichtspunkten der Zweckmäßigkeit geschehen, man unterliegt dabei keinen weiteren Einschränkungen. Das folgende Skalarprodukt [Ba61] erweist sich dabei als besonders nützlich. Es wurde von Elphick et al. [ElEA87] in die Normalformentheorie eingebracht und von Stegemerten, Meyer und Hall [St91,MeHa92] wieder aufgegriffen1.8.

Für ein Polynom $R({\mbox{\protect\boldmath$z$}}) = \sum\limits_{\vert{\mbox{\protect\footnotesi...
...rotect\boldmath$z$}}^{\mbox{\protect\footnotesize\protect\boldmath$j$}}\in\L _m$ mit ${\mbox{\protect\footnotesize\protect\boldmath$j$}}\in{\bf N}_0^{2n}$ und ein entsprechend definiertes Polynom $S({\mbox{\protect\boldmath$z$}})\in\L _m$ setzen wir

\begin{displaymath}
\begin{array}{cccl}
(\cdot\vert\cdot): & \L _m\times\L _m ...
...z_{2n}
}
S({\mbox{\protect\boldmath$z$}}) \quad,
\end{array}\end{displaymath} (1.64)

wobei $ \; \overline{\rule{0ex}{1.5ex} \ \; } \; $ die komplexe Konjugation bedeutet. Man überzeugt sich durch Nachrechnen leicht davon, daß die so definierte Sesquilinearform $(\cdot\vert\cdot)$ die erforderlichen Eigenschaften eines Skalarproduktes hat und damit $\L _m$ zu einem unitären Vektorraum macht.

Im folgenden wollen wir ${\cal A}_m$ und ${\cal A}_m^*$ in einer einfach zu benutzenden Form darstellen. Zunächst betrachten wir ${\cal A}_m$ und benutzen die Darstellung (1.46b) der Poisson-Klammer sowie die Definition (1.33) der Hamilton-Matrix:

$\displaystyle {\cal A}_m(\cdot)$ $\textstyle =$ $\displaystyle \left\{ \cdot,H_2 \right\}$  
  $\textstyle =$ $\displaystyle D_{\mbox{\protect\footnotesize\protect\boldmath$z$}}(\cdot) \mbox...
...\cdot$}J
\left( D_{\mbox{\protect\footnotesize\protect\boldmath$z$}}H_2 \right)$  
  $\textstyle =$ $\displaystyle D_{\mbox{\protect\footnotesize\protect\boldmath$z$}}(\cdot) \mbox{\protect\boldmath$\cdot$}
L{\mbox{\protect\boldmath$z$}} \quad.$ (1.65)

Eine analoge Darstellung von ${\cal A}_m^*$ zu finden, ist etwas aufwendiger. Wir beginnen mit der Definition des zu ${\cal A}_m$ adjungierten Operators,

\begin{displaymath}
\left( {\cal A}_m^*R\vert S \right) = \left( R\vert{\cal A}_mS \right)
\end{displaymath} (1.66)

mit $R,S\in\L _m$. Für ${\cal A}_m$ verwenden wir die explizite Darstellung (1.91) und interpretieren dann den Ausdruck ${\cal A}_m\left(S({\mbox{\protect\boldmath$z$}})\right)$ als die Ableitung einer Funktion nach einem Parameter $t$:

\begin{eqnarray*}
\quad
{\cal A}_m\left( S({\mbox{\protect\boldmath$z$}}) \rig...
...{\mbox{\protect\boldmath$z$}} \right) \right\vert _{t=0}
\quad.
\end{eqnarray*}



Damit haben wir

\begin{displaymath}
\quad \left( {\cal A}_m^*R\vert S \right)
= \left. \frac{d...
...ath$z$}}\right) \Big\vert S
\right) \right\vert _{t=0} \quad,
\end{displaymath}

wobei wir noch die für beliebige lineare Abbildungen $M$ auf ${\bf C}^{2n}$ geltende Eigenschaft $\left(R\circ M^*\vert S\right) = \left(R\vert S\circ M\right)$ des Skalarproduktes (1.90) und $M^*:=\left(e^{Lt}\right)^*=e^{L^*t}$ ausgenutzt haben. Schließlich erhalten wir nach Ausführung der Ableitung für $t=0$

\begin{displaymath}
\quad \left( {\cal A}_m^*R\vert S \right)
= \left( D_{\mbo...
...\cdot$}L^*{\mbox{\protect\boldmath$z$}} \vert S \right) \quad,
\end{displaymath}

so daß wir für ${\cal A}_m^*$ gefunden haben:
\begin{displaymath}
\quad {\cal A}_m^*(\cdot) = D_{\mbox{\protect\footnotesize\...
...rotect\boldmath$\cdot$}L^*{\mbox{\protect\boldmath$z$}} \quad.
\end{displaymath} (1.67)

Diese Formel stimmt bis auf die Adjungierung (Transposition und komplexe Konjugation) der Matrix $L$ mit der Darstellung (1.91) von ${\cal A}_m$ überein. Die Darstellungen (1.91) und (1.93) von ${\cal A}_m$ und ${\cal A}_m^*$ findet man in ähnlicher Form auch in [ElEA87]. Dragt und Finn gelingt es mit dem von ihnen definierten Skalarprodukt nicht, eine allgemeine Darstellung von ${\cal A}_m^*$ anzugeben; sie beschränken ihre Diskussion deshalb auf auf einen speziellen $H_2$-Typ.

Wir kehren kurz zu dem Beispiel vom Anfang dieses Abschnitts zurück und demonstrieren die Gültigkeit der Zerlegung (1.88) im Fall $m=3$ für das $H_2$ der Gl. (1.82). ${\cal A}_m^*$ ergibt sich zu

\begin{displaymath}
\quad
{\cal A}_m^*(\cdot) = { \partial(\cdot) / \partial q...
...*} {q\choose p}
= q \frac{\partial}{\partial p}(\cdot) \quad,
\end{displaymath}

so daß wir für den Kern von ${\cal A}_3^*$ erhalten:

\begin{displaymath}
\quad \mbox{Ker}\left({\cal A}_3^*\right) = \mbox{span} \left\{ q^3 \right\} \quad.
\end{displaymath}

Somit folgt zusammen mit Gl. (1.85b) die gewünschte Zerlegung von $\L _3$.

Es stellt sich natürlich die Frage, ob auch ${\cal A}_m^*$ ein zu irgendeinem Polynom $H_2^*\in\L _2$ adjungierter Lie-Operator ist. Man überzeugt sich durch Nachrechnen leicht davon, daß dies für

\begin{displaymath}
H_2^*({\mbox{\protect\boldmath$z$}}) := \frac{1}{2} {\mbox{...
...rotect\boldmath$\cdot$}J^{-1}L^* {\mbox{\protect\boldmath$z$}}
\end{displaymath} (1.68)

der Fall ist. Denn es gilt nach (1.46b)

\begin{eqnarray*}
\quad
\mbox{\rm ad}_{H_2^*}(\cdot)
& = & \left\{ \cdot,H_2^...
...
J^{-1}L^* {\mbox{\protect\boldmath$z$}} \right) \right) \quad,
\end{eqnarray*}



und wegen der Symmetrie von $J^{-1}L^*$ ist $D_{\mbox{\protect\footnotesize\protect\boldmath$z$}}\left( \frac{1}{2} {\mbox{\...
... {\mbox{\protect\boldmath$z$}} \right)
= J^{-1}L^*{\mbox{\protect\boldmath$z$}}$, so daß Gl. (1.93) folgt. ($J^{-1}L^*$ ist symmetrisch, weil $J^{-1}L^*=J\;\overline{\mbox{Hess}(H_2)}J$ ist und $J^T=-J$ gilt.)

Man beachte auch hier die Ähnlichkeit von $H_2^*$ in Gl. (1.94) und des entsprechenden Ausdrucks für den quadratischen Anteil der Hamilton-Funktion:

\begin{displaymath}
\quad H_2({\mbox{\protect\boldmath$z$}}) = \frac{1}{2} {\mb...
...t\boldmath$\cdot$}J^{-1}L {\mbox{\protect\boldmath$z$}} \quad.
\end{displaymath} (1.69)

Nachdem wir uns die benötigten Hilfsmittel verschafft haben, können wir eine zu Gustavsons Satz analoge Aussage machen:

Satz 1.3 (Stegemerten)   Jede Hamilton-Funktion $H({\mbox{\protect\boldmath$z$}})$ in Gestalt einer formalen Potenzreihe (1.41) kann durch eine formale kanonische Transformation gemäß Gl. (1.81) in eine äquivalente Hamilton-Funktion $G({\mbox{\protect\boldmath$z$}})$ transformiert werden, die in DFS-Normalform ist.

Der Beweis dieses Satzes ist im wesentlichen identisch mit dem Beweis von Satz 1.2. Lediglich bei der Lösung der homologischen Gleichung (1.66a) sind anstelle von Gl. (1.66b) die Nebenbedingung

$\textstyle \parbox{11.5cm}{
\begin{displaymath}
G_m \in \mbox{Ker}\left({\cal A}_m^*\right)
\end{displaymath}}$ % latex2html id marker 215966
$\textstyle \parbox{1.0cm}{ \hfill (\ref{NebenbedingungGust}') }$

und statt der $\L _m$-Zerlegung (1.68) deren Entsprechung (1.88) zu verwenden. Unabhängig von Stegemerten wurde Satz 1.3 auch in [MeHa92] bewiesen.

Wir gehen an dieser Stelle noch kurz auf den Zusammenhang zwischen der Gustavsonschen und der DFS-Normalform ein. Für ein $H_2$ vom Gustavson-Typ (1.61) ist

$\displaystyle L$ $\textstyle =$ $\displaystyle J\; \mbox{Hess}\left(
\sum_{\nu=1}^n \frac{\omega_\nu}{2}
(z_\nu^2+z_{n+\nu}^2)
\right)$  
  $\textstyle =$ $\displaystyle \left(\protect\begin{array}{@{}c@{\hspace*{0.1cm}}
c@{}}0&\mbox{\...
...quad \mbox{mit} \quad
\Omega = \mbox{diag}\left(\omega_1,\ldots,\omega_n\right)$  
  $\textstyle =$ $\displaystyle \left(\protect\begin{array}{@{}c@{\hspace*{0.1cm}}
c@{}}0&\Omega\\  [-0.1cm]-\Omega&0\protect\end{array}\right) \quad,$ (1.70)

so daß für die adjungierte Matrix $L^*$ gilt:
\begin{displaymath}
L^* = \left(\protect\begin{array}{@{}c@{\hspace*{0.1cm}}
c...
...mega\\ [-0.1cm]\Omega&0\protect\end{array}\right)
= -L \quad.
\end{displaymath} (1.71)

Wir erhalten schließlich wegen (1.94,1.95) bzw. (1.91,1.93):
$\displaystyle H_2^*({\mbox{\protect\boldmath$z$}})$ $\textstyle =$ $\displaystyle - H_2({\mbox{\protect\boldmath$z$}})$ (1.72)
$\displaystyle \quad
{\cal A}_m^*$ $\textstyle =$ $\displaystyle - {\cal A}_m \quad.$ (1.73)

Damit ist klar, daß eine Hamilton-Funktion, die in Gustavson-Normalform ist, auch in DFS-Normalform vorliegt, denn in diesem Spezialfall sind die Kernvektorräume von ${\cal A}_m$ und ${\cal A}_m^*$ identisch.

Im folgenden Abschnitt zeigen wir, daß die Normalformentheorie für Hamilton-Systeme physikalisch relevant ist: Die wichtigste Anwendung dieser Theorie ist die Konstruktion von Integralen der Bewegung.



Fußnoten

... aufgegriffen1.8
Dragt und Finn verwenden in [DrFi79] ein ähnliches Skalarprodukt, das aber zu einer erheblich umständlicheren Formulierung der Theorie führt. Die Vorteile des Skalarproduktes (1.90) zeigen sich weiter unten bei der Berechnung von ${\cal A}_m^*$.

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Martin_Engel 2000-05-25